Was eine Geschichte über ihren Verfasser verrät

(Ein Gastbeitrag von Oliver Fröhlich.)

 

Ich liebe Geschichten. Immer schon. Jahrzehntelang habe ich sie – je nach Qualität und Inhalt mit unterschiedlich großem Spaß – nur konsumiert. Seit nunmehr zehn Jahren schreibe und veröffentliche ich auch selbst. Es war ein langer Weg des Lernens, meistens freudvoll, manchmal schmerzhaft, vor allem aber ein Weg, der nicht enden wird, solange ich schreibe. Das Ziel liegt in weiter Ferne und ich kenne es (zum Glück) nicht, an den Startpunkt jedoch kann ich mich sehr gut erinnern: eine zweijährige Fernschulung mit monatlichen Hausaufgaben.

Die erste lautete: »Warum ich schreiben lernen will.«

Eine Frage, die ich mir bis dahin nie gestellt hatte. Ich wusste, dass ich es wollte, aber nicht, weshalb.

Hier nun ein paar Sätze aus diesem Text:

»Kennen Sie etwas, das faszinierender ist, als ein gutes Buch zu lesen? Nun, ich nicht. Finden Sie es nicht auch bewundernswert, wie es manchen Schriftstellern gelingt, den Leser zu bewegen, ihn zum Lachen oder zum Weinen zu bringen, ihm Angst zu machen?

Es gibt nichts Schöneres für mich, als mich von einem Autor an der Hand nehmen und in eine Wunderwelt entführen zu lassen. (…)

Sehen Sie, und das, was solche Kerle mit mir machen, würde ich gerne mit anderen anstellen. Mir liegt nichts daran, der Menschheit klarzumachen, dass sie auf einen Abgrund zusteuert. Ich will nicht darauf hinweisen, wie furchtbar Kriege sind. Nichts läge mir ferner, als zu erklären, wie vorteilhaft es eigentlich wäre, wenn sich alle zur Abwechslung einmal ganz doll lieb hätten. Denn wozu soll man jemanden aus seinem Alltag in eine literarische Welt entführen, wenn er dort denselben Mist erlebt wie sonst auch? Ich halte es für unsinnig, mit erhobenem Zeigefinger durch die Lande zu ziehen und Missstände anzuprangern, die denkende Menschen auch ohne mich und nicht denkende Menschen nicht einmal mit mir bemerken würden. (…)

Viel wichtiger wäre es mir, Leser mit kleinen Geschichten aus dem Alltag, aus fremden Ländern oder gar aus fernen Dimensionen zu unterhalten.«

Diese Sätze sind über zwanzig Jahre alt, gelten für mich aber noch immer. Ich betone: für mich! Jeder Leser mag andere Ansprüche stellen, jeder Autor andere Ziele verfolgen, und das ist gut so. Ich glaube aber, dass man als Autor das schreibt, was man als Leser gerne lesen würde.

Oliver auf dem Weg zum nächsten Schreib-Mord

Und darum wage ich zu behaupten, dass ein Autor noch keinen Mord begangen haben muss, um einen Krimi zu schreiben, oder dass er keine ausgeprägten Gewaltfantasien oder Angststörungen braucht, um Horror-Szenen zu verfassen. Er kann einen Roman über den Kampf gegen eine Umwelt-Mafia deshalb schreiben, weil er es für eine spannende Geschichte hält – und nicht, weil er dem Leser die fatalen Folgen der Umweltverschmutzung vor Augen führen möchte. Andererseits kann ich natürlich nicht ausschließen, dass er eben doch einen Mord begangen hat, an Angststörungen leidet oder den Leser auf die Müllproblematik aufmerksam machen will.

Mit anderen Worten: Eine Geschichte verrät mir nichts über denjenigen, der sie sich ausgedacht hat. Jede Deutung, die über die offensichtliche Handlung hinausgeht, liegt somit im Auge des Lesers und muss nicht unbedingt die des Autors sein. Jeder Rückschluss auf das Wesen des Verfassers ist ohne weitere Informationen aus diesem Grund ein reines Glücksspiel und kann bestenfalls zufällig richtig sein.

Was das alles mit mir zu tun hat?

Nun, ich habe vor einigen Jahren einmal ein Eichhörnchen überfahren. Es hoppelte just in dem Moment über die Landstraße, als ich mit hundert Stundenkilometern ankam, blieb im dümmsten aller Augenblicke stehen und starrte mir entgegen. Kein Scherz: Noch heute erinnere ich mich an den anklagend in die Höhe ragenden Puschelschwanz im Rückspiegel, noch heute tut mir das arme Tier leid. Jawohl, so ein Weichei bin ich.

Das hindert mich aber nicht daran, Figuren in Romanen Morde begehen, Raumschiffe sprengen oder Frauen vergewaltigen zu lassen, wenn die Geschichte es erfordert. Vor einiger Zeit schilderte ich in einem Rhodan-Roman eine vorgetäuschte Invasion, die scheinbar unzählige Menschenleben kostet. Erst nach und nach stellt sich heraus, dass es sich um eine groß angelegte Täuschung handelt – bei der es aber, wie vom Exposé vorgegeben, dennoch zu vereinzelten tragischen Unfällen kommt, während die Rechnersysteme von einem Virus übernommen werden. Ich beschloss, diese Unfälle in Schlaglichtern unterschiedlicher Intensität und unterschiedlichen Ausmaßes zu beschreiben. Hier ein kleiner Auszug daraus:

»In Sanara, Asien, fiel der lokale Nachrichtensender #Nichts-als-die-Wahrheit-TV# für mehrere Minuten aus und zeigte anschließend die Wetterberichte des vergangenen Jahres. Der Fehler konnte erst nach einer Stunde behoben werden.

In Pelur, Südamerika, verlor der Milchfarmer Hernando Rodriguez zwei seiner Kühe, weil die Melkroboter den nötigen Kraftaufwand falsch berechneten und den Tieren die Euter abrissen. Nur eine Dreiviertelstunde später kontaktierte der Farmer seinen Anwalt, um die Herstellerfirma auf Schadenersatz zu verklagen.

In New York, Amerika, kochte der Servoroboter der Witwe Rosie Sanders das Frühstücksei zu lange, sodass das Eigelb gerann. Sie warf es weg. Nachdem auch der zweite Versuch misslang, beschloss sie, in den nächsten Tagen den Kundendienst zu verständigen und bis dahin auf Eier zu verzichten.

In Helsinki, Europa, schloss die Positronik das Ehepaar Ella und Rangar Valtilainen in der Sauna ein und regelte die Temperatur auf über hundert Grad hoch. Obwohl sie sofort den Notrufschalter drückten, traf Hilfe erst eine halbe Stunde später ein. Zu diesem Zeitpunkt war Rangar bereits an Kreislaufversagen gestorben.«

Diese Passage – genauer gesagt ein einziger Satz, nämlich der mit den Kühen – veranlasste einen Leser dazu, mich in einem Brief an die Leserkontaktseite der Rhodan-Redaktion als »sadistischen Autor« zu bezeichnen. Mich! Der nach Jahren noch heftig schlucken muss, wenn er sich an den Puschelschwanz im Rückspiegel erinnert.

Ich muss gestehen, dass mich diese Aussage im ersten Augenblick gekränkt hat, weil sie durch die Geschichte hindurch greift und mir als Person unterstellt, dass ich Lust und Freude an Grausamkeiten empfinde – oder zumindest daran, sie zu schildern. Nach einiger Zeit nahm die Kränkung jedoch ab und ich zog daraus jedoch zwei Erkenntnisse.

Zum einen, dass dieser Leser den Roman – und speziell diese Szene – vielleicht/wahrscheinlich nicht mochte, dass es mir aber dennoch gelungen ist, ihn auf gewisse Weise zu berühren. Insofern habe ich erreicht, was ich vor Jahren in meiner Hausaufgabe als Ziel angegeben habe.

Zum anderen, dass man als Autor offenbar die Deutungshoheit über eine Geschichte in dem Moment abgibt, in dem sie veröffentlicht und gelesen wird. Schade, weil es eben zu unzulässigen Schlussfolgerungen führt, aber ich muss mich wohl damit abfinden.

Über das Thema »Deutungshoheit« habe ich mir übrigens schon vor über zwanzig Jahren Gedanken gemacht. Deshalb will ich mit einem kleinen Gedicht aus jener lange zurückliegenden Zeit schließen:

Ode an den Scharlatan

Apollonia grinst gierig gen Norden
Schier allmächtig im Zeugen und Morden
Seid gewärtig ihr edelsten Recken
Denn ihr werdet das Unheil erwecken
Sucht das Heil in der Flucht
Ihr habt alles versucht
Und ihr konntet doch nichts bezwecken

Doch die Nacht ist eiskalt nun und finster
Und der Mondschein versteckt sich im Ginster
Darum zählt nur noch eines im Leben
Ihr könnt hoffen dass euch wird vergeben
Doch ich sage euch links
Da liegt auch noch so’n Dings
Und so wurde belohnt euer Streben

Also werdet ihr sicher nun fragen
Bitte was wollen die Worte uns sagen
Geht’s um Leiden um Leben um Lieben
Nun ich hab diesen Quatsch zwar geschrieben
Doch der Sinn von dem Quark
(Ich bedauere es arg)
Ist selbst mir noch verborgen geblieben

 

Oli ist Autor bei bei den Serien PERRY RHODAN, MADDRAX und PROFESSOR ZAMORRA. Wie da noch Zeit bleibt für einen Brotberuf, ist mir unerklärlich.

5 Kommentare Gib deinen ab

  1. Uwe sagt:

    Und ich wage zu behaupten, dass Oliver Fröhlich kein Physiker zu sein braucht oder ins All reisen musste, um gute SF-Romane zu schreiben. Jedenfalls gefallen mir seine Geschichten immer ganz gut.

    1. mmthurner sagt:

      Oja, mir gefallen sie auch.

  2. Herzkoma sagt:

    Ich hab mir geschworen, nicht mehr fies zu sein. Deshalb sag ich lieber mal nichts: Weder zum Text in Prosa, noch zum Text in Reimen. Wer schreibt, der darf sich natürlich Autor nennen. „Schriftsteller“ oder „Dichter“ jedoch ist jenen vorbehalten, die diese Kunst auch beherrschen. Schreiberlinge jedoch gibt es viele und so langweilen mit Binsenwahrheiten und abgestandenem Humor .. LG PP

    PS: Jetzt war ich doch wieder fies. Sorry! Mea Culpa ..

    1. mmthurner sagt:

      Nun, das ist Deine Meinung, die akzeptiere ich.
      Aber ich kann Dir genau so meine Meinung sagen: Ich find’s schrecklich überheblich, wie Du da urteilst.

    2. Oliver Fröhlich sagt:

      Wieso? War doch nicht fies. Du hast zum Ausdruck gebracht, dass dir der Text nicht gefällt, was dein gutes Recht ist. Du hast zum Ausdruck gebracht, dass ich mich deines Erachtens nicht Schriftsteller oder Dichter nennen sollte (was ich im gesamten Text ja auch nicht getan habe), was ebenfalls dein gutes Recht ist. Damit erlaubst du Lesern deines Kommentars, aus deinem Text unzulässige (aber vielleicht zufällig richtige) Rückschlüsse auf deine Person zu ziehen.

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